Iatrogene Zahnlängenänderungen Teil 2

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Ruth Nebel

Ursächlich für sogenannte „CMD“?

Im ersten Teil unserer Artikelserie wurden die aus Literatur und Praxis bekannten „Änderungen der Körperhaltung“, die nach Zahnveränderungen auftreten können, beleuchtet. Sie gelten als Folge einer inkorrekten Okklusion, weshalb diese zum Hauptziel in der Zahnmedizin avanciert ist. Diese Rolle der Okklusion ist jedoch zu bezweifeln, denn die Änderungen der Körperhaltung treten hypothetisch nach Längenveränderung der Oberkieferzähne auf. Mitverändert wird dabei die Lage der Oberkieferkauebene zum Schädel. Die hat hypothetisch eine einzigartige Funktion: Sie liegt während der Fortbewegung wie eine Wasserwaage im Raum und weist in die Gehrichtung. Diese Lage wird in jeder Bewegungsphase und auch bei schneller Bewegung beibehalten.

Abb. 1; A In-vivo-Kopfhaltung bei Erstdiagnostik B einartikulierte Modelle C mit Unterkieferschiene im Artikulator D mit Unterkieferschiene in vivo: schräge Kopfhaltung des Patienten, in die Symmetrie gezwungen. 1 Ohrachse in vivo, 2 Ohrachse im Artikulator, 3 Unterkieferposition in vivo, 4 Unterkieferposition im Artikulator 5 Sockel Artikulator

Hypothetisch hat die Oberkieferebene eine Orientierungsfunktion für das posturale System (Körperhaltung, Orientierung und Gleichgewicht). Wird ihre Lage im Schädel nach schräg verändert, treten die „Änderungen der Körperhaltung“ auf: Aus der geraden Haltung verschieben, verkanten, rotieren, flektieren oder extendieren die Körperabschnitte. Diese Haltungsreaktionen, deren Natur bisher nicht untersucht wurde, dienen hypothetisch dazu, die Oberkieferkauebene weiterhin raumhorizontal auszurichten – auf Kosten der geraden Körperhaltung. Damit sind die „Änderungen der Körperhaltung“ posturale Reaktionen, ähnlich den Gleichgewichts-Stellreaktionen, hier: nicht-physiologische Stellreaktionen (physiologisches Pendant sind die Stellreaktionen zum Beispiel beim Einbeinstand oder auf schiefer Ebene).

Diese Aspekte und die im folgenden Text vorgestellte Diagnostik sind noch nicht in die Fachwelt vorgedrungen, eine Studie steht noch aus. Im folgenden Beitrag werden Fehlerquellen bei der Registration und der Fertigung von Zahnersatz aufgezeigt sowie zwei Therapiekonzepte verglichen.

Fehlerquellen zwischen Registration und dem fertigen Zahnersatz:

Registration, Zahnersatz und Schienen fokussieren die Okklusion. Der Einfluss der Kopfhaltung auf die Kieferlage wird dabei nicht von der Okklusion differenziert. Er wird als vermeintliche „Okklusion“ mitregistriert. Die haltungsabhängig verschobene Bisslage (1) wird in den neuen Zahnersatz übernommen und durch ihn fixiert.

Bei horizontaler Ohrachse des Artikulators steht das Oberkiefermodell von Patienten mit schräger Kopfhaltung in unzutreffender Position (Abb. 1 – 2). Der Unterkiefer erscheint dabei zur Seite verschoben, was auch seine Öffnungsbewegung verfälscht. Mit dem Ziel, aus dieser unzutreffenden Situation einen okkludierenden Zahnersatz herzustellen, werden im anzufertigenden Zahnersatz Zahnhöhen verändert oder umverteilt. Die Oberkieferzahnlänge und die Lage ihrer Kauebene werden nicht konserviert. Die Höhe der Ober- und Unterkieferzähne („vertikale Höhe“) gilt als beliebig austauschbar, ist es hypothetisch jedoch nicht.

Zahnlängenveränderungen erfolgen häufig unbedacht bei der Versorgung mit Zahnersatz. Dies kommt als Ursache für die Veränderung der Körperhaltung beziehungsweise zur CMD in Betracht. Die Versorgung mit Prothetik führt bei geschätzten 70 bis 95 Prozent der Patienten zu Veränderungen der Körperhaltung durch nicht-physiologische Stellreaktionen. Insbesondere nach mehrfachen Folgeversorgungen kann es zu ernsthaften Beschwerden im ganzen Körper kommen. Beschwerden wären vermeidbar, wenn die Oberkieferzahnlänge und die Lage der Oberkieferkauebene zum Schädel konserviert würden. Artikulatoren sollten das Ober- und Unterkiefermodell schädel- und raumbezüglich darstellen.

Es folgt der Vergleich des gegenwärtigen CMD-Therapiekonzepts mit dem Therapiekonzept, was die Lage der Oberkieferkauebene zum Schädel und zur Raumhorizontalen berücksichtigt. Es wird „derselbe“ Patient behandelt.

Therapie und Artikulator: Vergleich zweier Konzepte bei identischer Ausgangssituation

Therapieverlauf 1

Erstdiagnostik (Abb. 1 A) „Rücken- und Gelenkschmerzen, Dysbalancen in Muskulatur und Gelenken, Zahnersatz im I. und IV. Quadranten, Kreuzbiss, Mundöffnung gerade nach unten. Diagnose „CMD“, Therapie: Schienentherapie, Ziel: Optimierung der Okklusion.“

Einartikulieren der Modelle (Abb.1 B) im herkömmlichen Artikulator: Die im Artikulator horizontal stehende Ohrachse stellt die reale Kopfhaltung und die Unterkieferposition unzutreffend dar.

Therapie (Abb.1 C) Eine Okklusionsschiene für den Unterkiefer wird angefertigt nach unzutreffenden Höhenabständen der Modelle. Nur im Artikulator erscheint dieser Biss symmetrisch. Die Therapie mit Einschleifen der Schiene dauert vier Monate bis drei 3 Jahre.

Ergebnis (Abb. 1D) Die schräge Oberkieferkauebene wurde in der Therapie nicht korrigiert, daher verbleibt die schräge Kopfhaltung. Die Beschwerden persistieren. Der Unterkiefer wird durch die Schiene in die schrägstehende Symmetrie gezwungen, was seine an sich vertikale Öffnungsbewegung behindert.

An diesem Punkt der Behandlung werden Patienten mit persistierenden Beschwerden häufig ungerechtfertigt als „psychosomatisch“ bezeichnet.

Therapieverlauf 2

Erstdiagnostik (Abb. 2 A) „Rücken- und Gelenkschmerzen, reduzierte OK-Zahnlänge rechts bei Zahnersatz im I. und IV. Quadranten, nicht-physiologische Stellreaktionen in der Körperhaltung, die mit der Schräglage der Oberkieferkauebene zum Schädel korrelieren. Überprüfung dieses Zusammenhangs mittels

Vortests (Abb. 3) Ein 3 mm-Plättchen wird zwischen die rechten Zahnreihen geschoben: Daraufhin begradigt sich die Körperhaltung des Patienten, gegensinnige Drehungen werden reduziert. Der Zusammenhang ist damit bestätigt, eine Korrektur der Lage der Oberkieferkauebene ist sinnvoll zur Löschung der Stellreaktionen in der Körperhaltung.“

Einartikulieren der Modelle (Abb. 2B) Entsprechend der in-vivo-Kopfhaltung (NHP) in den Raumebenenartikulator

Therapie (Abb. 2C) Korrektur der OK-Zahnlänge zunächst provisorisch (zum Beispiel Schiene). Dieser Schritt findet parallel am Patienten und am Artikulator statt, Dauer ein bis vier Wochen

Ergebnis (Abb. 2D) Aufrechte Kopfhaltung (NHP) nach korrigierter Lage der Oberkieferkauebene zum Schädel. Stellreaktionen stark reduziert, keine Rückenschmerzen mehr. Die Okklusion wird nach Erreichen der optimalen Kopfposition hergestellt.

Nur Therapie 2 löscht die nicht-physiologischen Stellreaktionen aus der Körperhaltung durch die Lagekorrektur der Oberkieferkauebene. Die Haltungsveränderungen als Stellreaktionen sind in der Fachwelt noch nicht bekannt². Weil sie zudem unauffällig sind, werden sie in der Regel auch von Fachärzten übersehen. Als permanente Fehlbelastungen schädigen sie jedoch die Körperstrukturen. So wirkt der Rumpf, wenn er durch Stellreaktion nicht mehr axial, sondern seitverschoben, rotiert und verkantet auf den Lendenwirbelkörpern sitzt, in jeder Bewegungsphase als Scherkraft auf sie ein (so, als wenn man einen Ast zerbricht). Schädlichster Aspekt scheint die gegensinnige Rotation zwischen Schulter und Becken (Abb. 3, obere Reihe): Die Lendenwirbelsäule erfährt dazwischen eine Bewegung wie beim Auswringen eines Lumpens. Dies kann die tiefen Rückenschmerzen bei CMD-Patienten erklären.

Vergleich: Gehen mit schräger und gerader Oberkieferkauebene (Vortest)

Setting: Das Markerkreuz stellt die Lage der Oberkieferkauebene dar. Es ist über eine Schiene an den Oberkieferzähnen befestigt und wird nach dem Einsetzen „echt“ horizontal und in die Gehrichtung (= gelbe Bodenmarkierung) ausgerichtet. In A1 – A3 ist die Schiene dünn, in B1 – B3 ist sie rechts 3 mm stark. Die Kamera fokussiert das am Fenster hängende, senkrecht auf die Gehmarkierung stoßende Lot. Die Aufnahmen wurden ohne Pause gemacht. Die eingefügte gelbe Vertikale verbindet Lot und Gehmarkierung und synchronisiert beide Bildreihen zum Vergleich.

Obere Reihe: Oberkieferzähne rechts verkürzt, Kauebene rechts ansteigend

(Kursiv hervorgehoben sind die Aspekte der nicht-physiologischen Stellreaktion.)

A1: Kopfneigung nach rechts +Rotation nach links, Augenachse schräg (nicht-physiologische Kopfstellreaktion). Rumpf knickt nach rechts, Schulter und Becken rotieren gegensinnig (Pfeile), linker Arm als Gegengewicht vom Körper entfernt.

A2: nicht-physiologische Kopfstellreaktion, an aktuelle Gehphase angepasst. Rumpf/LWS durch gegensinnige Rotation verwrungen.

A3: Becken und Rumpf weit über rechtes Standbein hinausgeschoben. Richtungswechsel der Schulter- und Beckenrotationen sowie der Rumpfverwringung. Linkes Bein wird über Beckenrotation im Bogen nach vorn gebracht, rechter Arm dient als Gegengewicht.


Untere Reihe: Oberkieferzahnlänge und Kauebene teilweise ausgeglichen

B1: Kopfneigung/-rotation geringer, Augenachse horizontaler, Rumpf aufrecht über dem Standbein (physiologisch). Armabstand zum Körper geringer (teilweise physiologisch).

B2: Kopfposition in der physiologischen Stellreaktion der aktuellen Gehphase. Rumpf zu Beginn der Standbeinphase aufrecht und mittig (physiologisch), etwas verdreht (teilweise physiologisch).

B3: Rumpf nahezu mittig, leichte gegensinnige Rotation Rumpf – Becken (teilweise physiologisch). Füße ziehen gerade nach vorn.

In beiden Reihen, also unabhängig von ihrer Lage zum Schädel steht die Oberkieferkauebene konstant „echt“ horizontal und in die Gehrichtung. Keine andere Körperebene weist eine raumkonstante Position auf. Hypothetisch ist die Oberkieferkauebene eine Orientierungsebene mit der Funktion, den Körper mit den Raumdimensionen zu synchronisieren.

Fazit

In den Jahrzehnten der Forschung nach der Ursache der craniomandibulären Dysfunktion scheint als neuer Gesichtspunkt wesentlich: Die unter „CMD“ auftretenden Beschwerden scheinen Folge einer posturalen Reaktion zu sein, die nach Verlagerung ihrer Orientierungsebene, der Oberkieferkauebene einsetzt. Dies muss freilich erst wissenschaftlich verifiziert werden. Möglicherweise sind die unter „CMD“ zusammengefassten Beschwerden mit diesem zusätzlich raumbezogenen Konzept erfolgreicher zu behandeln.

Die Vorstellung, dass Zähne ausschließlich das „Kausystem“ beherbergen würden und Zahnkontakte gleichzusetzen wären mit „Okklusion“, hat das Auffinden der posturalen Verbindung zwischen Zähnen und Körperhaltung behindert. Nun kommt es darauf an, die Erscheinung von Stellreaktionen für die Diagnostik zu lehren und in die Behandlung zu integrieren. Diese Aspekte sollten auch der Kieferchirurgie für besser planbare Ergebnisse verhelfen, denn sie betreffen auch den knöchernen Teil des Oberkiefers.

Das Equipment, zum Beispiel der Artikulator, sollte die Lage der Zähne schädel-und raumbezüglich darstellen. Hierdurch sollte eine ursächliche Behandlung der unter „CMD“ fallenden Beschwerden möglich sein, sowie durch den Erhalt der Oberkieferlänge deren Prävention. Es wäre wünschenswert, Patienten mit einem langen Leidensweg eine Behandlung unter diesen Gesichtspunkten anzubieten.

Literatur

1. van’t Spijker A, Creugers NHJ, Bronkhorst EM, Kreulen CM. Body position and occlusal contacts in lateral excursions: a pilot study. Int J Prosthodont [Internet]. Jan [cited 2016 Feb 25];24(2):133–6. Available from: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21479279

2. Nebel R. Einfluss von Zahnveränderungen auf die Körperhaltung. Man Medizin [Internet]. 2014 Oct 1 [cited 2014 Sep 30]. Available from: http://link.springer.com/article/10.1007/s00337-014-1142-0/fulltext.html


Für die Durchführung einer Studie wird ein Partner gesucht.

Dank: Herzlichen Dank für die Herstellung der Markerkreuze/ Beratung zum Raumebenenartikulator an Robert Luo, Modellbauer, Nürnberg

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