Der Oberkiefer als Referenz für die Orientierung in der Umwelt
Die Maxilla übernimmt während der Fortbewegung in der Umwelt hypothetisch eine bislang unbekannte Funktion für die Körperhaltung und Raumorientierung: Sie stellt mit den Achsen ihrer körperlichen Struktur die individuelle Bewegungsrichtung, die Raumhorizontale und die Schwerkraftrichtung dar. Das Achsengebilde dieser „Referenzebene“ in der Maxilla ist Lage-identisch zu den Raumebenen: Die sagittale Maxillaachse zeigt in jeder Phase der Bewegung in die individuelle Bewegungsrichtung und „echt“ horizontal. Dies entspricht hypothetisch einer Synchronisation des Körpers mit der Umwelt, denn das individuelle Bewegungsziel wird in das System der Raumebenen eingegliedert. Die Synchronisation scheint die übergeordnete Voraussetzung für die räumliche Orientierung durch das visuelle und das vestibuläre System zu sein (Abb. 1). Diese Funktion kann willkürlich unterbrochen werden. Sie ist nur während der Fortbewegung in der Umwelt aktiv, inaktiv ist sie zum Beispiel während des bequemen Sitzens, des Schlafens oder der Gymnastik.
Diese Entdeckung wirft ein neues Licht auf die Reaktion zwischen Ursache und Beschwerden der craniomandibulären Dysfunktion, die bislang als idiopathische Störung in den Gelenksstrukturen und der Zahnkontakte (Okklusion) vermutet wird. Physiologischer Weise entstehen durch Zahnkontakte sensible Impulse, die zum ZNS weitergeleitet werden, dies wird im Fall der CMD als abweichend angenommen:
Erklärungsmodelle der craniomandibulären Dysfunktion
Zur Verbindung Okklusion – Körperhaltung haben sich bezüglich der CMD Gedankenmodelle etabliert, bei denen diese sensiblen Impulse von der üblichen Leitungsbahn abweichen: Der sensible Impuls des stomatognathen Parameters Okklusion verlässt in diesen Modellen seinen normalen Verschaltungsweg im Verlauf des N. Trigeminus, gerät auf Abwege und beeinflusst zum Beispiel Hirnnervenkerne, die absteigenden Bahnen des Rückenmarks oder regionale Muskeln (Auszug aus verschiedenen Konzepten). Nach diesen Modellen kommt es zu einem motorischen Effekt zum Beispiel auf regionale Muskeln, der sich über myofasziale Strukturen über den ganzen Körper ausbreitet. Ein Modell beschreibt den Einfluss über Hirnnervenkerne auf die absteigenden Bahnen und von dort auf die periphere Muskulatur. Diese Konzepte gehen von einer Konversion eines afferenten, sensiblen Reizes in einen efferenten, motorischen Impuls aus. Weiterhin stellen sie das Überschreiten von Systemgrenzen durch den neuronalen Impuls und sein Weiterwirken in anderen Systemen dar. So etwas ist ungewöhnlich.
Posturale Reaktion
In der hier vorgestellten Hypothese startet die Reaktion weder von der Okklusion noch verlässt sie die physiologischen Verschaltungswege. Sie wird als rein posturale Stimulus- und Response-Reaktion hypothetisiert. Auslöser ist eine Verlagerung der (posturalen) Referenzebene zum Schädel nach Längenänderung der Oberkieferzähne. An die Stelle der vermuteten Ausbreitung der motorischen Effekte durch myofasziale Ketten treten nicht-physiologische Stellreaktionen des posturalen Systems. Ihr Ziel ist, die korrekte Positionierung der Referenzebene nach den Raumebenen herzustellen. Deren Effekt auf die Körperhaltung ist eine nicht-willkürliche Haltungsänderung, die alle Strukturen des Körpers schädigt und erhebliche Schmerzen produziert. Sie kommen heute in der Lehre nicht vor.
Fehldiagnose?
Die mit „craniomandibulärer Dysfunktion“ bezeichnete Störung ist nach der vorliegenden Hypothese weder idiopathisch noch entsteht sie im Kausystem. Im vorliegenden Ansatz wird sie bei Erwachsenen als iatrogen eingeschätzt, denn die verursachenden Längenänderungen an Oberkieferzähnen entstehen hypothetisch durch Prothetik. Prothetik wird unter Fokussierung der Okklusion angefertigt, was die Funktion des posturalen Systems konterkariert. Verlagerungen der Referenzebene können sich neben der Versorgung mit Prothetik auch bei kieferorthopädischen Behandlungen und bei Umstellungsosteotomien in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie ergeben. Die bisherige Vorstellung einer idiopathischen Dysfunktion zwischen Schädel und Mandibula wäre demnach ein folgeschwerer Irrtum.
Nicht-physiologische Stellreaktionen, sagittale Asymmetrien
Nicht-physiologische Stellreaktionen werden bisher in der Literatur nur unspezifisch als “Veränderungen der Körperhaltung“ bezeichnet. Sie können entstehen, weil die raumabhängige Referenzebene an die Physis einer Struktur (=Maxilla) gekoppelt ist. Durch Längen- und Formänderungen an der Maxilla und ihren Zähnen wird gleichzeitig die Lage der Referenzebene zum Schädel verändert (Abb.1 B). Die Referenzebene verläuft physiologischer Weise transversal zum Schädel, sofern die Zahnlängen und die Abmessungen der Maxilla original/ optimal sind. Nur dann unterstützt ihr Verlauf die aufrechte Körperhaltung. Nach Veränderung der Zahnhöhe/ Lage der Referenzebene kommt es innerhalb von 1-2 Minuten zur bleibenden Veränderung der Körperhaltung (NHP!) durch nicht-physiologische Stellreaktionen. Benachbarte Körperabschnitte werden gegensätzlich hinter, vor oder neben das Körperlot verschoben, dabei gekippt und rotiert, um die schräg zum Schädel stehende Referenzebene nach den Raumebenen auszurichten. Dadurch wird die Schwerkraft zur ständig einwirkenden Scherkraft. Bei sagittalen Veränderungen der Oberkieferzahnlänge stehen Körperabschnitte wie Rumpf und Becken stehen nicht mehr axial übereinander, sondern hinter und vor dem Körperlot (Abb.1).
Asymmetrien in der Frontalebene
Bei Asymmetrien in der Frontalebene steigt die Referenzebene zur Kopfseite mit kürzeren Oberkieferzähnen an. Die Körperabschnitte werden daraufhin nach rechts bzw. links vom Körperlot verschoben. Die Kopfneige der Stellreaktion ist morphologisch keine Lateralflexion. Beim Gehen werden dadurch die Rumpfseiten alternierend auseinander gezogen und gestaucht.
Diagnostik von Stellreaktionen
Stellreaktionen zeigen großbogige Abweichungen vom Körperlot, die nichts mit strukturellen Achsabweichungen (Skoliose, Lordose, Kyphose)zu tun haben. Sie sollten daher von diesen und auch von „Muskelschwäche“ differenziert werden. Stellreaktionen benötigen eine völlig andere Behandlung. Die Verwechslung der verschiedenen Entitäten bedeutet wenig erfolgreiche Behandlungen.
Fehlbelastung und Schmerzfolge
In der Bewegung verursachen nicht-physiologische Stellreaktionen in der Wirbelsäule ein dreidimensionales rotierendes Winden mit Achsabweichungen und Richtungswechseln. Dies ergibt sich aus den Verschiebungen der Körperabschnitte, die in jeder Bewegungsphase aufs Neue durch Stellreaktionen ausgerichtet werden. Die Wirbelsäule muss deren Positionierung folgen (Abb. 4). Benachbarte Körperabschnitte, zum Beispiel Rumpf und Becken, drehen dabei in die entgegengesetzte Richtung (Abb. 6), so dass die Wirbelsäule zwischen beiden verdreht, besser „ausgewrungen“ wird bei zusätzlichen Richtungswechseln. Die unablässig einwirkende Fehlbelastung auf die Körperstrukturen zerstört langfristig Gelenke, Bänder, Muskeln und Knochen, was mit dem Schmerzaufkommen der Patienten korreliert.
Störungen der Gleichgewichtsverarbeitung
Die Referenzebene wird raumkonstant positioniert und darf höchstens 3° von ihrer Position abweichen. Eine größere Abweichung führt zum plötzlichen Verlust der Balance („Schwindel“). Ihre korrekte Positionierung wird aufwändiger, wenn sie asymmetrisch zum Schädel verläuft. In diesem Fall stehen bereits in der „Neutralposition“, beim als „aufrecht“ empfundenen Stand, die Achsen aller Körperabschnitte schräg im Raum und zueinander. Während der Bewegung werden die physiologischen Stellreaktionen, die dem Erhalt des Gleichgewichts dienen, unterdrückt. Sie dürfen nur dann noch ausgeführt werden, sofern sie die nicht-physiologischen Stellreaktionen, mit denen die Lage der Referenzebene gesichert wird, nicht verändern. Daher ist das Gleichgewicht schon durch das Fehlen der physiologischen Stellreaktionen gefährdet. Andererseits kann sich bei schnellen Körperbewegungen eine physiologische Stellreaktion durchsetzen und damit die nicht-physiologische Stellreaktion auflösen. In beiden Fällen verliert die Referenzebene ihre räumliche Position und es kommt zum plötzlichen Verlust der Lagekontrolle. In dieser Konkurrenzsituation von Stellreaktionen bestimmt das Ausmaß der Dislokation der Referenzebene über die verbleibende Kapazität des Gleichgewichtssystems. Bei Untersuchungen des Vestibularsystems und des visuellen Systems ergeben sich in der Regel unauffällige Befunde.
Physiologische Stellreaktion, sensorische Impulse durch Zahnkontakte
Aus dem Zusammenspiel der Ober- und Unterkieferzähne ergeben sich Afferenzen über den Zustand des Gleichgewichts und die Lage des Körpers zur Schwerkraft: Diese Impulse werden aus den Mustern der passiven horizontalen Zahnkontakte generiert, die sich aus den Verschiebungen der Kiefer während der Stellreaktion generieren. Diese Zahnkontakte sind passiv und unbewusst, sie haben nichts mit Okklusion zu tun. Die physiologische Stellreaktion setzt zum Beispiel in der Standbeinphase des Gehens ein, wenn das Gewicht nur von einem Bein getragen wird und das Körperlot von der Schwerkraftrichtung abweicht. Um die Balance zu sichern, werden Schultergürtel, Becken und Kopf werden über das Standbein geschoben. Die Körperseite über dem Standbein verlängert sich einschließlich des Schädels zu einem konvexen Bogen. Schädel und Oberkiefer werden dadurch „angehoben“, während die Mandibula an derselben Raumposition bleibt (sie „hängt“ als träges Objekt mit der Schwerkraft)1–3. Dadurch entfernen sich auf der Standbeinseite die Oberkiefer- von den Unterkieferzähnen, während es auf der Schwungbeinseite zur Annäherung mit Zahnkontakt kommt. Hieraus ergibt sich eine weitere Funktion der Kiefer als System der Gleichgewichtsverarbeitung und der Raumorientierung. Die Maxilla als Teil des Schädels und die Mandibula als träge mit der Schwerkraft hängendes Objekt stellen in ihrem Zusammenspiel die vom Körper ausgehenden und die auf ihn einwirkenden Kraftvektoren dar. Dies informiert das ZNS mittels der sensorischen Impulse der Zahnkontakte über den Status des Gleichgewichts und die Lage zur Schwerkraft. Physiologische Stellreaktionen laufen im Alltag unablässig und auch kombiniert ab. Das Ausbleiben dieser Impulse durch Verhinderung des Kontakts führt zu einer Beeinträchtigung des Gleichgewichts. Hier weise ich in erster Linie auf die Resultate hin anstelle der Interpretation4–6
Reaktionsparameter
- Auslöser: Längen- und Formänderung von Oberkieferzähnen
- Ausführende Funktion: Stellreaktionen
- Effekt: gesetzmäßige Veränderungen der Körperhaltung und- Bewegung
- Reaktionsgeschwindigkeit: schnell (Gleichgewichtsreaktion). Die Reaktion ist:
- proportional (je größer die Zahnlängenänderung, desto ausgeprägter die Stellreaktion)
- korrelierend (die Lokalisation der Zahnänderung bestimmt das Muster der Stellreaktion)
- synchron im ganzen Körper auftretend
- in jedem Menschen gleich
- aus den Komponenten gegensinnige Neigung und Rotation bestehend (dies definiert eine Stellreaktion)
Myofasziale Ketten …
… zeigen völlig unterschiedliche Reaktionsparameter als die stattfindende Reaktion: Die Ausbreitung über myofasziale Ketten wäre zu langsam, sie vermittelt kein gesetzmäßig ablaufendes Muster an Körperveränderungen und der Effekt ist individuell unterschiedlich. Sie können daher unmöglich weiterleitende Strukturen sein.
Willkürliche Bewegungen oder Stellreaktionen?
Die Unterscheidung zwischen einer willkürliche Bewegungen und einer Stellreaktion kann anhand der Bewegungskomponenten erfolgen. Willkürliche Bewegungen koppeln eine Lateralflexion mit Rotation in dieselbe Richtung. Stellreaktionen kombinieren eine Seitneige mit einer kontralateralen Rotation.
Studien: „absteigende Ketten“
In Studien mit der Fragestellung nach einer Verbindung zwischen Okklusion und Körperhaltung und Intervention kamen 60/40% zu widersprüchlichen Resultaten. Diese ausgedehnte Diskrepanz der Resultate lässt an einen Störfaktor denken. Setting: in der Intervention wurden Schienen oder Splints zur Änderung der „Okklusion“ eingesetzt. Danach wurde die Körperhaltung reevaluiert. Sie fand sich in etwa der Hälfte der Studien verändert7–9. In diesem Anteil der Studien wurde die Okklusion als Auslöser der Veränderungen der Körperhaltung gefolgert. Daraus wurde eine Verbindung zwischen Kausystem und Körperhaltung abgeleitet7,9–11.
Soweit nachvollziehbar, lässt sich der Störfaktor in den unterschiedlichen Höhen der applizierten Schienen finden (0,2- 5mm). Eine Höhe von >2 mm veränderte die Körperhaltung, und zwar über nicht-physiologische Stellreaktionen 7–9. Diese blieben jedoch unerkannt. Die Veränderung nur der Okklusion war, soweit nachvollziehbar, nicht haltungswirksam 12,13.
Die o.g. Reaktion wird in der Literatur als „absteigende Ketten“ bezeichnet, was eine Ausbreitung über myofasziale Ketten angibt. Beides wird hier als Fehlschluss hypothetisiert.
Craniofaziale Höhenänderungen haben im Gegensatz zur „Okklusion“ in übereinstimmenden Resultaten zu Änderungen in der Körperhaltung geführt (bitte Augenmerk auf die Resultate der Studien legen, nicht auf die Interpretation 1,14–23
Studien: „aufsteigende Ketten“
In weiteren Studien wurde untersucht, ob durch eine Veränderung der Körperhaltung die Okklusion verändert wird. In der Intervention wurde die Körperhaltung mittels einer einseitigen Schuherhöhung verändert, was eine Beinlängendifferenz bewirkt 24–26. Bei der anschließenden Reevaluierung der „Okklusion“ fanden sich die Kiefer verschoben, was als „Veränderung der Okklusion“ interpretiert wurde. Daraus wiederum wurde auf eine Verbindung zwischen der Körperhaltung und der „Okklusion“ geschlossen. Diese Reaktion wird gegenwärtig als „aufsteigende Ketten“ bezeichnet.
Die durch die Beinlängendifferenz ausgelöste „Veränderung der Körperhaltung“ wird im vorliegenden Ansatz als Stellreaktion hypothetisiert (s. physiologische Stellreaktion). Die horizontale Lageverschiebung zwischen Ober-und Unterkiefer hat demnach nichts mit Okklusion nichts zu tun. Demnach ist die vermutete Verbindung zwischen Körperhaltung und Okklusion ein Fehlschluss.
Leider auch in den Werken zur CMD-Behandlung zeugen die Abbildungen von Körperhaltung oder Bewegungsphasen von wenig geübter Beobachtungsgabe. DB
Zum Autor
- Seit 1994 Physiotherapeutin, Manualtherapeutin und Bobath-Therapeutin
- 2008 – 2014 Studium der Humanmedizin an der Charité, Universitätsmedizin,Berlin
Die Literatur zum Beitrag haben wir Ihnen in unserem Downloadbereich bereitgestellt.