Tobacco Harm Reduction

Interview mit Dr. Thomas Nahde

Was ist das und was bedeutet das für die Zahnarztpraxis?

In der Zahnarztpraxis gelten Raucher als besonders herausfordernde Patienten, da der herkömmliche Tabakkonsum die Symptome unter anderem der Parodontitis verfälscht. Ein Ansatz ist bei diesen Patienten immer der Versuch einer Rauchentwöhnung. “Tobacco Harm Reduction”, also die Reduzierung gesundheitlicher Schäden, die durch das Rauchen entstehen, soll für diejenigen Patienten, die ansonsten weiter rauchen würden, eine Alternative zum totalen Verzicht auf die Zigarette sein. Im folgenden Interview verrät uns Dr. Thomas Nahde, einigen vielleicht noch bekannt aus seiner langjährigen Tätigkeit bei GSK, wie sich der Tabakkonzern Reemtsma mit diesem Ansatz auf ein für die Zahnmedizin bisher noch weitestgehend neues Gebiet begibt.

Willkommen zurück in der Zahnmedizin Herr Dr. Nahde, wir freuen uns, Sie wiederzusehen! Wie kommt es, dass es Sie nach 15 Jahren Medical Affairs in Gesundheitsunternehmen, darunter GSK und Smith & Nephew nun in die Tabakindustrie verschlägt? Wie passt denn das zusammen?

THOMAS NAHDE (lacht) Das ist tatsächlich genau die „Gretchenfrage“, die ich mir selbst, bevor ich 2020 bei Reemtsma/Imperial Brands Science begonnen habe, gestellt habe und die mir natürlich auch von meiner Familie und von Bekannten gestellt wurde und wird: „Warum auf die ‘dunkle’ Seite wechseln?“ Interessant ist dabei vielleicht zu wissen, dass meine Frau im Medical Bereich eines Pharmaunternehmens arbeitet und sie zudem ihre beiden Eltern viel zu früh durch die Folgen des Rauchens verloren hat. Auch vor diesem Hintergrund also keine sofort nahelie- gende Entscheidung, zumal wir beide Nichtraucher sind.

Rauchen gilt als einer der wichtigsten Risikofaktoren für ganz verschiedene Erkrankungen wie zum Beispiel COPD, die Parodontitis oder die Periimplantitis, aber eben auch für tiefe Infekte nach chirurgisch-orthopädischen Eingriffen. Imperial Brands (Reemtsma in Deutschland) und auch andere Tabakunternehmen befinden sich heute – sehr ähnlich der Energie- oder Automobilindustrie – in einem unglaublich spannenden Transformationsprozess und fokussieren immer stärker darauf, erwachsenen Rauchern weniger schädliche – weil schadstoffreduzierte – Alternativen zur Zigarette anzubieten. Und genau das war am Ende für mich entscheidend: Die Wissenschaft rund um diese neuartigen Produkte wie zum Beispiel die E-Zigarette in einem kontroversen Umfeld voranzutreiben und Rauchern, die ansonsten weiter rauchen würden, eine Alternative anzubieten. Die medizinische Wissenschaft spricht von Tobacco Harm Reduction als einem die Tabakkontrolle ergänzenden Konzept, mit einem erheblichen Potenzial für die öffentliche Gesundheit. Hier einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag in einem herausfordernden Umfeld leisten zu können, hat mich unheimlich gereizt.

Harm Reduction Gleichung: Harm Reduction ist das Ergebnis mehrerer Variablen, darunter das reduzierte Risiko des jeweiligen Produktes sowie eines Ausstiegs aus dem Rauchen, beziehungsweise eines unbeabsichtigten Einstiegs in das Rauchen.

Von Tobacco Harm Reduction haben wir in der Zahnmedizin bisher noch kaum etwas gehört. Können Sie uns das Konzept einmal kurz erklären?

THOMAS NAHDE Die beste Möglichkeit für Raucher, ihre Gesundheit zu verbessern, ist ganz klar der vollständige Verzicht auf das Rauchen sowie auf den Genuss von Tabak oder Nikotin.

Bei Harm Reduction – also der Risikoreduzierung – geht es um die Entwicklung von Alternativen, um negative gesundheitliche Folgen eines riskanten Handelns oder Verhaltens zu minimieren, ohne zwingend einen bedingungslosen Verzicht darauf zu fordern. Typische Beispiele dafür sind Tempolimits, Sicherheitsgurte oder Airbags, um die Risiken für den Fahrer und andere beim Autofahren zu reduzieren. Viele Raucher können oder wollen nicht mit dem Rauchen aufhören. Nehmen Sie zum Beispiel meine Mutter, die selbst über 50 Jahre geraucht hat. Sie war nie offen für die vielen guten Gründe aufzuhören, ist jetzt aber vollständig auf die E- Zigarette umgestiegen und kann sich mittlerweile eine Rückkehr zur Zigarette gar nicht mehr vorstellen.

Der Umstieg auf deutlich weniger schadstoffhaltige Alternativen ist für erwachsene Raucher, die ansonsten weiter rauchen würden, insofern die nächstbeste Alternative: Denn Tabakrauch enthält bis zu 7.000 verschiedene Substanzen, von denen etwa 100 als Ursache oder mögliche Ursache für durch das Rauchen verursachte Erkrankungen erachtet werden. Entfällt die Verbrennung von Tabak, Tabak an sich oder eine Inhalation, so kann dadurch das Risikopotenzial des Nikotinkonsums gesenkt werden.

Gibt es schon heute Beispiele, wo das Konzept erfolgreich eingeführt und seitens Medizin und Politik unterstützt wird? Und warum wird es andernorts Ihrer Meinung nach noch nicht unterstützt oder sogar abgelehnt?

THOMAS NAHDE Ja, die gibt es tatsächlich. Zum Beispiel sinkt der Anteil an Rauchern in denjenigen Ländern schneller, in denen das Konzept durch Gesundheitsexperten, Behörden und Gesetzgeber unterstützt wird und für neuartige Produkte entsprechende regulatorische Rahmenbedingungen gegenüber der Zigarette geschaffen werden.

Eines der prominentesten Beispiele in Europa ist Schweden mit einer historisch niedrigen Raucherquote von nur 5 Prozent (verglichen zu über 20 Prozent in Deutschland) – der niedrigsten in ganz Europa. Das ist unter anderem auf die dort verfügbaren rauchfreien oralen Tabakprodukte zurückzuführen. Ein weiteres Beispiel ist England, wo sich seit dem Markteintritt von E-Zigaretten die Geschwindigkeit des Rückgangs von Rauchern erkennbar beschleunigt hat.

Allerdings wird Tobacco Harm Reduction auch heute noch kontrovers und mitunter sehr emotional diskutiert. Die Frage nach dem Nutzen für die Gesamtgesundheit der Bevölkerung ist am Ende das Ergebnis aus verschiedenen Variablen, darunter das reduzierte Risikopotenzial, der Rauchausstieg sowie der unbeabsichtigte Raucheinstieg, insbesondere durch Minderjährige oder Nichtraucher andererseits.

Sind alternative Nikotinprodukte wie zum Beipsiel E-Zigaretten, Tabakerhitzer, moderne Kautabakbeutel oder Nikotin Pouches also so etwas wie ein „Plan B“ für Raucher, die noch nicht mit dem Rauchen aufhören können oder wollen? Oder können sie auch eine Rolle spielen für diejenigen Patienten in der Zahnarztpraxis, die aufhören wollen zu rauchen?

THOMAS NAHDE Alternative Nikotinprodukte sind keine Arzneimittel zum Rauchausstieg und stellen daher auch keine therapeutische Alternative für diejenigen Raucher dar, die aufhören wollen zu rauchen. Wenn Raucher aufhören wollen zu rauchen, sollten sie unbedingt mit allen entsprechend dafür geeigneten Arzneimitteln oder Programmen in ihren Bemühungen unterstützt werden. Allerdings versuchen weniger als 20 Prozent aller Raucher überhaupt ernsthaft mit dem Rauchen aufzuhören.

Wenn Raucher es also nicht können oder wollen, bietet ihnen das Konzept der Harm Reduction eine Alternative zu dem Schwarz-Weiß-Denken, das sich oft in dem Mantra „quit or die! (Hör auf oder Stirb!)“ manifestiert und dem Raucher keinerlei andere Optionen bietet, sondern den bedingungslosen Rauchstopp fordert. Ein Ansatz ohne Optionen ist jedoch nicht nur wenig hilfreich, sondern zeugt auch von wenig Mitgefühl gegenüber Millionen erwachsenen Rauchern, für die ein Rauchstopp – aus welchen Gründen auch immer – eben noch keine realistische Alternative ist.

Um es noch einmal zu betonen: Neuartige Produkte wie E-Zigaretten, Tabakerhitzer oder tabakfreie orale Nikotinbeutel sind nicht risikofrei – Konsumenten und Umstehende werden jedoch im Vergleich zur Zigarette deutlich weniger und geringeren Mengen Schadstoffen ausgesetzt.

Okay, das scheint ein interessanter Ansatz zu sein. Aber lassen Sie uns auch einmal über Nikotin sprechen. Nikotin wird oft als suchterzeugendes Nervengift bezeichnet. Nikotin scheint also giftig zu sein und macht zudem noch abhängig. Warum haben aus Ihrer Sicht nikotinhaltige Produkte vor diesem Hintergrund überhaupt eine Berechtigung?

DR. THOMAS NAHDE Das ist sicherlich eine berechtigte Frage. Wie viele andere Substanzen auch, kann Nikotin in hohen Dosierungen giftig sein. Bei einem bestimmungsgemäßen Konsum durch Erwachsene werden diese aber nicht erreicht. Insofern ist die Bezeichnung „Nervengift“ in diesem Zusammenhang also zumindest missverständlich, wenn nicht sogar irreführend.

Nikotin hat vielfältige Wirkungen und wird als ein mildes Stimulanz angesehen. Ein Teil des Nikotins ähnelt dem chemischen Botenstoff Acetylcholin, der eine wichtige Rolle in Bezug auf Wachsamkeit, Aufmerksamkeit, Lernen und das Erinnerungsvermögen spielt. Richtig ist, dass Nikotin abhängig macht und nicht ohne Risiko ist. Nach Ansicht von Gesundheitsexperten weltweit sind jedoch insbesondere die Schadstoffe, die beim Verbrennen von Tabak entstehen, die Grundursache für die durch das Rauchen verursachten Erkrankungen – und eben nicht das Nikotin. Entkoppelt vom Tabakrauch wurde das langfristige Sicherheitsprofil von Nikotin als Substanz bereits durch zahlreiche klinische Pharma-Studien, für die seit Jah zehnten verschreibungsfrei in Apotheken erhältlichen OTC- Arzneimittel, bestätigt.

Bei der Risikobeurteilung geht es also darum, Nikotin und seine Risiken entkoppelt von Tabakrauch zu beurteilen. Es sollte nicht nur allein das absolute, sondern eben auch das relative Risiko im Vergleich zur Zigarette für erwachsene Raucher beurteilt werden.

Im Zusammenhang mit Tobacco Harm Reduction werden oftmals Bedenken einer sogenannten „Gateway-Hypothese“ geäußert, dass also diese Produkte insbesondere für Jugendliche attraktiv seien und sie im ersten Schritt abhängig und in einem zweiten Schritt schließlich zu Rauchern machen würden.

THOMAS NAHDE Dieses Thema ist aus meiner Sicht eines von vielen, bei dem die tiefe Spaltung der Diskutierenden beim Thema Tobacco Harm Reduction deutlich wird. Andere Themen sind zum Beispiel der duale Konsum oder die Einschätzung des genauen Schadenspotenzials im Vergleich zur Zigarette. Ich bin der Meinung, dass eine offene Diskussion zu derartigen Überlegungen und Bedenken richtig und wichtig wäre. Denn bei jedem Harm Reduction Ansatz muss zwischen einer individuellen und einer gesamtgesellschaftlichen Risikoreduzierung unterschieden werden, um sicherzustellen, dass die Summe aller Vorteile am Ende überwiegt und langfristig zu einem niedrigeren Tabakkonsum in der Bevölkerung führt.

Auch wenn aktuelle Studien und epidemiologische Daten einen derartigen Gateway-Effekt nicht belegen, so gilt es doch durch gemeinsame Anstrengungen, einen Konsum insbesondere durch Jugendliche oder Nichtraucher zu verhindern, um die positiven Effekte einer Risikoreduzierung weiter zu maximieren.

Oft wird versucht, den Einstieg ins Rauchen durch Längsschnitt-Studien zu belegen. Zwar können derartige Studien helfen, mögliche Zusammenhänge aufzeigen, sie können jedoch nicht alle Einflussfaktoren wie Familie, Freunde oder eine generelle Empfänglichkeit berücksichtigen. Valide Aussagen hinsichtlich der Kausalität solcher Zusammenhänge sind daher kaum möglich. Der Drogen- und Suchtbericht zeigt im Übrigen, dass der Anteil der Nie-Raucher unter E-Zigaretten- Verwendern weniger als 1 Prozent beträgt – alternative Produkte zur Zigarette sind gerade für Raucher interessant und der Einstieg durch Nie- oder Nichtraucher eher unwahrscheinlich. Das soll auch in Zukunft so bleiben.

Kritiker bemängeln, dass für Produkte wie E-Zigaretten oder Tabakerhitzer Langzeitstudien fehlen, um langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit überhaupt bewerten zu können. Inwieweit sind diese Produkte also tatsächlich weniger schädlich?

THOMAS NAHDE Die Forderung der Skeptiker nach Langzeitstudien über mehrere Jahrzehnte zu den gesundheitlichen Auswirkungen von NGPs wird mit der Anwendung des Vorsorge- oder Vorsichts-Prinzips (Precautionary Principle) begründet. Erst dann – so die Skeptiker – sei es überhaupt möglich, eine positive Empfehlung auszusprechen. Tatsächlich wird dieses Prinzip in der Praxis aber dann angewendet, wenn es ein Expositionsrisiko bei ansonsten gesunden Personengruppen abzuschätzen gilt. Das ist aber bei Rauchern, die diese Produkte als Alternative zur Zigarette konsumieren, ja gerade nicht der Fall. Denn das Schadenpotenzial von Zigaretten als Vergleichsgröße ist ja hinlänglich bekannt. Zudem gibt es mittlerweile zahlreiche Studien, die die positiven gesundheitlichen Effekte nach einem Umstieg von der Zigarette auf diese Produkte über Jahre hinweg belegen.

Auch epidemiologische Daten bestätigen dies: Schweden hat die niedrigste Lungenkrebs-Inzidenzrate in ganz Europa und das, obwohl in Schweden vergleichbar viel Tabak konsumiert wird – nur eben in einer Form, die den Konsumenten und umstehende deutlich weniger und geringeren Mengen Schadstoffen aussetzt (Es handelt sich dabei um sogenannten Snus, einen rauchfreien oralen Tabak, der in den meisten anderen europäischen Staaten verboten ist).

Sind diese Produkte also für die Patienten eine gesün- dere Alternative zum Rauchen?

THOMAS NAHDE Weder ist Rauchen gesund, noch sind die genannten Alternativen ohne Risiko, insofern ist der Begriff einer „gesünderen“ Alternative sicherlich nicht richtig. Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Die beste Möglichkeit für Raucher, ihre Gesundheit zu verbessern, bleibt der vollständige Verzicht auf das Rauchen sowie auf den Genuss von Tabak oder Nikotin. Der Umstieg auf schadstoffreduzierte und daher potenziell weniger schädliche Alternativen wie zum Beispiel E-Zigaretten, Tabakerhitzer oder tabakfreie orale Nikotinbeutel ist für erwachsene Raucher, die ansonsten weiter rauchen würden, jedoch die nächstbeste Alternative zum Rauchen.

Vielen Dank Herr Dr. Nahde für dieses ausführliche Gespräch!

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