Die Prävalenz des dentalen Traumas wird in nahezu allen Altersgruppen unabhängig von der Region weltweit mit circa 25 Prozent bis 30 Prozent als hoch angegeben. In Deutschland wird über ähnliche Häufigkeiten mit einer Prävalenz von 6 Prozent bis 38 Prozent im Kindes- und Jugendalter berichtet. 1, 2 Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen, insbesondere im Alter von 7 bis 9 Jahren. 3 Dislokationsverletzungen der Zähne kommen dabei bevorzugt im Milchgebiss vor, während Kronenfrakturen bevorzugt im bleibenden Gebiss gefunden werden. 1, 4, 5 Patienten mit Zahnfehlstellungen, vor allem mit weit nach vorne stehenden Oberkieferfrontzähnen bei zurückliegendem Unterkiefer (Angle-Klasse ll) sind davon häufiger betroffen, das heißt, sie unterliegen einem erhöhtem Risiko für Zahnunfälle. 6, 7
Fallbeschreibung
Ein neunjähriger Junge stellte sich mit seiner Mutter zur regulären Kontrolle und Individualprophylaxe in der Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde des Zentrums für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ZZMK) der Universitätsmedizin Greifswald vor. Während der Untersuchung wurden Schmelzrisse an einem der oberen Schneidezähne bemerkt. Erst auf Nachfrage berichtete der Vater, dass der Junge vor ein paar Wochen einen Unfall auf dem Schulhof in der Grundschule gehabt habe. Die weitere Befragung erfolgte mit Hilfe eines Traumadokumentationsbogens (Abb. 1). Mit diesem werden relevante anamnestische Faktoren systematisch dokumentiert, um eine optimale erste Einschätzung liefern zu können.
Laut Patient sei der Unfall vor ein paar Wochen in der Schulpause passiert. Er sei ausgerutscht und dabei ohne Fremdverschulden gegen das Klettergerüst auf dem Schulhof gefallen. Nach dem Unfall habe er blutige Lippen gehabt, aber eine normale Mundöffnung. Er konnte sich an den Unfallhergang erinnern und habe auch keine anderen Anzeichen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Müdigkeit, Übelkeit oder Sehstörungen gezeigt, das heißt, es lagen keine Anzeichen für ein Schädel-Hirn-Trauma vor.
Der Vitalitätstest auf Kälte zeigte für die Zähne 12 bis 22 klinisch positive Reaktionen, die Perkussionstests waren negativ, und es lag weder ein pathologischer Lockerungsgrad noch eine Farbveränderung vor (Abb. 2). Aufgrund des klinischen Befundes (Abb. 3) und der trauma-spezifischen Anamnese wurde entschieden, die Frontzähne röntgenologisch weitergehend zu untersuchen (Abb. 4), insbesondere damit auch ein frühes Röntgenbild vorliegt, so dass die Prognose besser eingeschätzt und im Rahmen der Verlaufskontrolle ein Vergleich möglich ist. Im aktuellen Röntgenbild liegen keine Anhaltspunkte für eine apikale Veränderung oder Wurzelfraktur vor (Abb. 4). Das Wurzelwachstum der OK-Frontzähne ist noch nicht abgeschlossen, was für die Prognose des Vitalerhalts des Zahns in der Regel vorteilhaft ist.
Diagnose
Die Diagnose Schmelzinfraktion/Schmelzinfraktur wurde für den Zahn 11 gestellt, da laut Definition eine Schmelzinfraktion oder Schmelzinfraktur eine unvollständige, sichtbare Fraktur des Zahnschmelzes ohne Substanzverlust beschreibt. 8 Traumatisch bedingte Schmelzinfraktionen können je nach Krafteinwirkung und -richtung unterschiedliche Verlaufsmuster aufweisen. Klinisch sind Schmelzinfraktionen nur in circa 4 Prozent der Fälle, also selten ohne die Hilfe einer zusätzlichen Lichtquelle erkennbar. 9 Eine Kaltlichtquelle (Fiber-Optic Transillumination – FOTI) ist daher zur Diagnostik oft hilfreich (Abb. 3), und aufgrund der relativ hohen Prävalenz von Frontzahntraumata in dieser Altersgruppe auch wichtig ohne spezifischen Verdacht.
Zudem sind Schmelzinfraktionen oft die einzigen klinisch sichtbaren Zeichen eines Traumas, die dann Hinweise auf weitere Verletzungen, insbesondere des Parodonts, liefern können, weshalb eine röntgenologische Untersuchung (Abb. 4) meist angezeigt ist. Häufig bleibt die Zuordnung zu einem traumatischen Ereignis schwierig, da viele Patienten die Zahnunfälle nicht als relevantes Ereignis betrachten und/oder sich nicht mehr genau daran erinnern können. 7
Schmelzinfraktionen bedürfen meist keiner invasiven Therapie, das heißt, im Regelfall sind bei solchen Befunden keine speziellen Therapiemaßnahmen der Pulpa erforderlich. Die Sensibilität („Vitalität“) des Zahnes sollte jedoch im Rahmen von regelmäßigen Nachkontrollen überprüft werden, da Infraktionen und Mikrorisse Eintrittspforten für Mikroorganismen darstellen können. 10 Die Vitalitätstests bei Kindern sind nicht nur wegen der altersabhängigen eingeschränkten Glaubhaftigkeit der Aussagen stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, sondern häufig tritt initial zudem ein Verlust der Sensibilität nach dem Trauma auf. 11 Daher sollten Vitalitätstests (bei Kindern) nie als alleiniges Diagnose- und Entscheidungskriterium herangezogen werden. Bei ausgeprägten Rissen können diese jedoch mit einem Adhäsivsystem „versiegelt“ werden, um die Pulpa vor einer potentiellen bakteriellen Invasion besser zu schützen und gegebenenfalls auch um eine ästhetisch unvorteilhafte Verfärbung der Risse durch extrinsische Einflüsse zu verhindern.
Die Prognose nach Schmelzinfraktionen ist allgemein sehr gut, so muss nur in etwa 0 bis 3,5 Prozent der Fälle mit einer Pulpanekrose gerechnet werden. 12, 13 Die Pulpanekrosen sind dabei wohl auch eher auf begleitende Verletzungen zurückzuführen zum Beispiel auf eine möglicherweise nicht erfasste begleitende Luxationsverletzung, können aber potentiell auch durch die bakterielle Invasion über die Schmelzrisse bedingt sein. 10
Therapie
In diesem Fall wurde die Schmelzinfraktur beziehungsweise der Schmelzriss an Zahn 11 zur Reduktion des Risikos bakterieller Besiedlung und möglichst auch zur Vermeidung extrinsischer Verfärbung mittels Adhäsivtechnik versorgt (Abb. 5 bis 7). Der Patient und die Eltern wurden über die Prognose und weitere häusliche Maßnahmen aufgeklärt, was im Wesentlichen die Wichtigkeit eines regelmäßigen Recalls zur speziellen Beobachtung des Zahns betraf und eine angemessene häusliche Reinigung des Zahns. Maßnahmen wie spezielle weiche Kost waren nicht mehr nötig, da das Trauma bereits einige Wochen zurücklag. Spezielle Maßnahmen in der Traumaprävention das heißt, beispielsweise ein Mundschutz/Zahnschutz ist insbesondere bei Patienten die Risikosportarten wie zum Beispiel Boxen, Handball, Skaten oder Eishockey betreiben, angezeigt, was bei diesem Kind jedoch nicht der Fall war.
Diskussion
Frontzahntraumata bei Kindern und Jugendlichen sind wie eingangs erwähnt relativ häufig. Vermeintlich kleine Traumata können daher schnell übersehen werden. Oftmals werden diese wie in diesem Fall nicht zwingend anamnestisch selbstständig berichtet, sondern erst auf spezifische Nachfrage. Insgesamt sollte auch die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Korrelation zum Befund abgeschätzt werden, um unter anderem eine Kindeswohlgefährdung oder Misshandlung möglichst auszuschließen. 14
Diagnosestellung
Bei der Diagnostik des dentalen Traumas mit zeitlichem Abstand zum Unfall sollte auch anamnestisch eine Abklärung der initial vorhandenen Lockerung und Dislokation zur besseren Einschätzung der Diagnose und somit auch Therapie und Prognose erfolgen. Ohne Traumadokumentationsbogen, können leicht wichtige Teilaspekte vergessen werden, daher ist eine vollständige Dokumentation des Befundes nach dem Unfall mit einem speziellen Erfassungsbogen sehr hilfreich. Ein Beispiel für ein solches Formular ist von der DGZMK online frei verfügbar.
Das Beleuchten des Zahnes mit unterschiedlichen Lichtquellen aus verschiedenen Richtungen oder durch die Zahnhartsubstanz lässt die feinen Diskontinuitäten im Schmelz optisch besser hervortreten und hilft bei der Beurteilung des Ausmaßes der Infraktur (Abb. 3). Eine genaue Einschätzung der Tiefe und einer möglichen Rissausbreitung im Schmelz beziehungsweise Dentin im Sinne einer Infraktur ist hingegen meist nicht möglich.
Vitalitätstest
Die sogenannte Vitalitätsprüfung stellt sich insbesondere bei Kindern mit traumatisierten Zähnen oftmals als schwierig dar, weil der thermische Vitalitätstest (zum Beispiel Kälte/CO2-Schnee) nicht immer zuverlässig ist. Es wird angenommen, dass sofern Nervenfasern durch thermische Reize stimuliert werden, die Pulpadurchblutung intakt sei. Doch reagieren akut traumatisierte Zähne (vor allem bei Luxationsverletzungen) selten wie gewünscht auf den „Kälte-Test“, obwohl die Durchblutung im Zahn noch vorhanden sein könnte. 11 Bei Kindern sollte daher stets ein Vergleichszahn getestet werden und zusätzlich auch ein Negativtest mit einem nicht-kalten Wattepellet.
Je nach Art der Frage: „Fühlt sich das kalt an?“, kann die Antwort zudem gesteuert werden und die Antwort des Kindes ist daher nicht zwingend „richtig“. Eine offene Frage „Wie fühlt sich das an?“ – oder unter Umständen auch ein überraschendes Berühren mit einem sehr kalten Wattepellet ohne Vorwarnung ist daher oftmals eher anzuraten. Denn mitunter wissen die Kinder, dass es sich kalt anfühlen sollte und dass dies die „richtige“ Antwort ist, um eine Therapie zu vermeiden.
Eine Studie zur Validität des Vitalitätstests mittels Kälte ergab eine Sensitivität** von 81 Prozent und ein Spezifität* von 92 Prozent. 15 Das bedeutet, dass hierbei 19 Prozent der Ergebnisse falsch negativ sein können und 8 Prozent der Ergebnisse falsch positiv. Zudem wird nur die Sensibilität als Reaktion auf einen „Schmerzreiz“ geprüft, jedoch nicht der Blutfluss der Pulpa direkt bestimmt, so kann beispielsweise bei einem obliterierten Frontzahn der Test zwar negativ sein, die Pulpa jedoch vital. Dies bedeutet, dass der klinisch einfach durchführbare Kältetest nicht immer objektiv ist und falls alleinig herangezogen zu Fehleinschätzungen führen kann.
Alternativ ist auch eine elektrische Pulpadiagnostik möglich, 11 jedoch treten hier bei Zähnen mit offenem Apex mitunter Fehlmessungen auf, weil der Raschkow-Plexus erst am Ende der Wurzelbildung vollständig ausgebildet ist. 16 In der oben genannten Studie 15 war die Spezifizität des elektrischen Test ebenfalls wie beim Kältetest 92 Prozent, jedoch die Sensitivität niedriger (71 Prozent). Zunehmend werden auch weitere Verfahren erforscht, so können die Pulsoximetrie (sehr hohe Sensitivität 15) und auch die Laser-Doppler-Durchflussmessung bei Zähnen zur Evaluation des Pulpazustandes das diagnostische Spektrum erweitern. 17
Röntgen
Bei solchen vermeintlich kleinen dentalen Traumata wie einer Infraktion stellt sich auch stets die Frage nach der Röntgenindikation. Laut DGZMK-Leitlinie sollte allgemein bei anamnestischem und/oder klinischem Verdacht auf ein dentales Trauma eine bildgebende Diagnostik, also eine Röntgenuntersuchung erfolgen. 7 Auch wenn mitunter im Anfangsröntgenbild keine Besonderheiten wie eine Wurzelfraktur zu erwarten sind, kann das Bild Hinweise für die Prognose geben und auch für einen Vergleich im Verlaufe der Zeit wichtig werden. So kann mitunter dann ein Fortschreiten des Wurzelwachstums erkannt werden, was einen wichtigen Hinweis auf die Vitalität des Zahns liefert, oder im ungünstigeren Fall kein Fortschreiten des Wachstums (zum Beispiel Vergleich mit dem gleichen Zahn des anderen Quadranten; 11 vs. 21).
Dentale Fotografie bei Frontzahntrauma
Die Fotodokumentation beim Frontzahntrauma kann vor allem aus forensischen Gründen (Haftungsgesichtspunkten) wichtig sein, und sie bietet eine zusätzliche Möglichkeit der Dokumentation der Befunde auch im zeitlichen Verlauf. So kann es ferner wichtig sein, Informationen über Fotos für eine gegebenenfalls nötige gutachterliche Stellungnahme, unter anderem bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung oder auch bei Fremdverschulden (Rohheitsdelikt), bereitzustellen. Dazu sollte man sich stets fragen: Passt die Unfallanamnese zum Befund und zur Art und zum Alter der Verletzung? Dies kann manchmal mit etwas zeitlichen Abstand und einem späteren reflektiertem Blick auf das Foto kritisch hinterfragt und gegebenenfalls dann gar besser eingeschätzt werden. 7 Auch in einer Mehrbehandlerpraxis und zur Dokumentation von Farbveränderungen kann diese Art der Dokumentation zusätzlich hilfreich sein.
Therapiealternativen
Eine Versiegelung eines Zahnes bei einer Infraktur mittels Adhäsivtechnik zum Verschließen der Eintrittsstelle für Mikroorganismen und zur Reduktion von Verfärbungen der Infraktionslinien ist möglich, jedoch bedürfen Schmelzrisse wie bereits erwähnt oftmals keiner speziellen Therapiemaßnahme. 18. Schmelzrisse gelten zwar als potenzielle Eintrittsstelle für Mikroorganismen, inwiefern im Einzelfall eine tatsächliche kritische Infektion des endodontischen Systems zu erwarten ist, ist nicht vorhersagbar. 19 Ein Beobachten und ein regelmäßiger Recall wird daher oftmals als ausreichend eingeschätzt. Invasivere (restaurative) Therapiemaßnahmen sind zu diesem Zeitpunkt bei solch einer Diagnose folglich nicht angezeigt.
Fazit
Bei der Routineuntersuchung von Kindern und Jugendlichen ist auch eine genauere Untersuchung der Frontzähne ohne spezifischen Verdacht auf ein Frontzahntrauma sinnvoll beziehungsweise wichtig, um auch von Frontzahntrauma betroffene Zähne ohne berichtete Anamnese zu detektieren.
1-19 Das Literaturverzeichnis und den Erfassungsbogen für Frontzahntraumata können Sie auf die Seite oben downloaden
**Spezifität und Sensitivität
Die Spezifität eines diagnostischen Testverfahrens gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass tatsächlich Gesunde, im Test auch als gesund erkannt werden, während die Sensitivität eines diagnostischen Testverfahrens angibt, bei welchem Prozentsatz die Erkrankung durch die Anwendung des Tests tatsächlich erkannt wird.