Endodontie in distaler Reichweite

Dr. Sam Alborz
Dr. Sam Alborz

Endodontische Eingriffe werden durch ein begrenztes Arbeitsfeld oft zusätzlich erschwert. Vor der Erfindung vorbiegbarer NiTi-Feilen galten viele Wurzelkanalbehandlungen als beinahe undurch-führbar aufgrund des stark eingeschränkten Zugangs. Die folgenden drei Patientenfälle zeigen, wie Endo-Experten mithilfe moderner Arbeitshilfen völlig neue Wege in der Aufbereitung beschreiten – besonders bei kaum zugänglichem Apex.

Abbildung 6 Endodontie Ausgabe 03 2016

Standardmäßig erfolgt zu Beginn einer Wurzelkanalbehandlung die Isolierung des Zahnes mittels Kofferdam, die Präparation der Zugangskavität sowie die Bestimmung der Arbeitslänge mithilfe eines hochmodernen Endometriegeräts. Nicht alle Wurzelkanäle weisen jedoch eine einheitliche Anatomie auf: Ein stark gekrümmter Verlauf mit versteckten Seitenkanälen oder horizontal verlaufenden Lateralkanälen stellt selbst versierte Endo-Spezialisten vor eine echte Herausforderung. In besonders kniffligen Fällen verkomplizieren eine distale Lage oder cranio-mandibuläre Probleme die Ausgangslage zusätzlich. Die moderne Endodontie gibt dem Zahnarzt mit ihren cleveren Arbeitshilfen und Dentalmaterialien eine Reihe praktischer Instrumente für die effektive und zuverlässige Wurzelkanalbehandlung an die Hand – zur großen Erleichterung von Endo-Experten. Denn einige Fälle verlangen ein spezielles Vorgehen und manchmal scheinen die Dinge “distal gesehen” völlig anders…

Nekrose in s-förmigem Kanal

In Fall 1 wurde ein 23-jähriger Schmerzpatient mit Beschwerden im linken Unterkiefer an unsere Praxis überwiesen. Das Röntgenbild zeigte eine tiefgehende Karies, die bereits Richtung Pulpakammer ausstrahlte. Klinische Untersuchungen bestätigten die Diagnose einer irreversiblen Pulpitis mit akuter Wurzelspitzenentzündung (Abb. 1). Die weitere Begutachtung der Röntgenaufnahme ließ schließlich die komplexe Anatomie der mesialen Wurzeln von Zahn 8 erahnen: das Kanalsystem verlief beinah s-förmig, wodurch der jeweilige Apex nur äußerst schwer erreichbar war. Zusätzlich zu der auffälligen Krümmung in mesiodistaler Richtung wurde während der Handinstrumentierung eine starke Krümmung der mesialen Wurzeln in faziolingualer Richtung entdeckt. Die komplizierte Kanalanatomie selbst stellte jedoch nicht den einzigen limitierenden Faktor dar: das Arbeitsfeld wurde außerdem durch einen ausgeprägten Distalbiss des Patienten verkleinert – eine mehr als unglückliche Kombination in Verbindung mit der ohnehin distalen Lage des betroffenen Zahnes.

Der ungenügende interokklusale Zwischenraum ließ nicht zu, eine handelsübliche 21 mm lange rotierende NiTi-Feile in den Kanal einzuführen. Aus diesem Grund kam ein besonderes NiTi-Feilensystem des Schweizer Dentalspezialisten COLTENE zum Einsatz. Bei der HyFlex EDM handelt es sich um ein modular aufgebautes Nickel-Titan-Feilensystem: In enger Zusammenarbeit mit führenden Universitäten und internationalen Endo-Spezialisten entwickelte die renommierte Forschungsabteilung des Unternehmens ein extrem anpassungsfähiges Konzept, welches den unterschiedlichsten Anforderungen gerecht wird. Die Abkürzung “EDM” steht dabei für ein spezielles Herstellungsverfahren namens “Electrical Discharge Machining”, welches eine einzigartige Struktur schafft (Abb. 2). Per Funkenerosion wird eine gehärtete Oberfläche erzeugt. Dadurch erhöht sich die Schneidleistung der Feile deutlich, wie bei einem Brotmesser mit Wellenschliff. Aufgrund dieser einzigartigen Materialeigenschaften ist die Feile besonders bruchsicher und prädestiniert für Zahnärzte, die mit einer reduzierten Sequenz schnell verlässliche Ergebnisse realisieren möchten.

Im vorliegenden Fall profitierten wir vor allem vom sogenannten “Controlled Memory”-Effekt (“CM”): ähnlich wie klassische Edelstahl-Feilen lassen sich Feilen der HyFlex-Serie vorbiegen und erleichtern somit entschieden die Arbeit an distalen Molaren (Abb. 3, 4). Gleichzeitig weisen sie im Gegensatz zu klassischen NiTi-Feilen fast keinen Rückstelleffekt auf, wodurch sich die Feile optimal im Kanalzentrum bewegt. Beim Autoklavieren können wiederverwendbare Feilen mit “CM”-Behandlung wieder ihre ursprüngliche Form annehmen, wenn sie nicht endgültig plastisch verformt wurden. In der speziellen Situation des beschriebenen Patientenfalls waren die vorbiegbaren EDM-Feilen die einzigen Instrumente, die in dem engen Arbeitsfeld verwendet werden konnten. Interessanterweise passte sogar eine EDM-Feile mit 25 mm Länge in den Kanal, wo zuvor eine klassische rotierende NiTi-Feile mit nur 21 mm Länge gescheitert war.

Zur Schaffung eines mechanischen Gleitpfads wurden alle mesiobukkalen und mesiolingualen Kanäle mit Handinstrumenten bis zur Größe 15 aufbereitet. Nach Eröffnung der Pulpakammer wurde sämtliches pulpales Gewebe entfernt und die Kanaldurchgängigkeit eingehend geprüft. Für die eigentliche Aufbereitung genügte der alleinige Einsatz einer universellen EDM-Feile in ISO-Größe 25 völlig (Abb. 5). Mit der flexiblen Feile konnten die mesialen Kanäle bis zu einer Arbeitslänge von 22 mm instrumentiert werden. Durch den fehlenden Rückstelleffekt ließ sich entspannt mit der Feile arbeiten, bei der Längenmessung passte ein Handinstrument Größe 30 bequem in den distalen Kanal. Im Anschluss wurde das apikale Drittel der beiden distalen Kanäle mit einer 04/40-Feile erweitert. Entscheidend für den Behandlungserfolg war ferner, dass zwischen jedem Instrumentenwechsel gründlich mit Natriumhypochlorit gespült wurde. Am Ende der Aufbereitung erfolgte das übliche Spülprotokoll mit NaOCI, EDTA und CHX unter Ultraschallaktivierung. Mithilfe einer endodontischen Absaugkanüle wurden die Kanäle getrocknet, gefolgt von der abschließenden Trocknung mit entsprechenden Papierspitzen. Zu guter Letzt wurden die Wurzelkanäle in der traditionellen, vertikalen Kondensationstechnik mit warmer Guttapercha obturiert (Abb. 6). Der Pulpaboden wurde mit einer Schicht Glasionomer, einem Schaumstoffpellet (als Abstandshalter) und einem dualhärtenden, auf Zinkoxid/Zinksulfat basierenden Füllungsmaterial temporär versiegelt. Nach finaler Röntgenkontrolle und erfolgreicher Endo wurde der Patient zur endgültigen Restauration des Zahnes an seinen Hauszahnarzt zurück überwiesen (Abb. 7).

Abrupte Kanalkrümmung

Fall 2 erwies sich als nicht minder spektakulär: eine 24-jährige Patientin betrat unsere Überweisungspraxis mit einer Pulpanekrose, ebenfalls in Zahn 8 im linken Unterkiefer. Auch hier war der Zugang stark eingeschränkt und die distale Lage des Zahnes bot nur sehr beschränkt Platz zur Instrumentierung. Der Kanalverlauf war extrem gekrümmt mit deutlicher Dilazeration (Fig. 8). Nach dem Beratungsgespräch stimmte die Patientin einer Wurzelkanalbehandlung zu. Nach Anlegen des Kofferdams wurde der Kanal mit einem Rundkopf-Diamantbohrer eröffnet. Zur besseren Identifikation möglicher Risse wurde die alte Kompositfüllung entfernt. Da das Dentin noch intakt schien, folgte die Aufbereitung des Kanals.

Zur Schaffung des passenden Gleitpfads wurden erneut alle Kanäle mit Handinstrumenten bis zur Größe 15 präpariert. Alle Feilen der eingesetzten Sequenz wurden entsprechend vorgebogen, von der HyFlex EDM 05/10 bis zur Universalfeile Größe 25, die mit leicht tupfenden Auf- und Abbewegungen geführt wurde (Abb. 9). Sorgfältiges Spülen befreite den Kanal von verbleibenden Dentinspänen und sämtlichem nekrotischem Gewebe. Die Längenmessung zeigte genügend Raum für ein Handinstrument der Größe 30, was eine ausreichende, apikale Erweiterung garantierte. Folglich wurden die distalen Kanäle mit einer HyFlex EDM 04/40 Finishing File aufbereitet. Aufgrund der abrupten Kanalkrümmung wurden die mesialen Kanäle hingegen mit einer klassischen HyFlex CM 04/35 geformt.

Nach gründlicher Spülung mit NaOCI, EDTA und CHX unter Ultraschallaktivierung wurden die Kanäle getrocknet und mit der vertikalen Kondensationstechnik obturiert. Dank des Einsatzes der flexiblen, bruchsicheren Feile konnten die Kanäle schnell und effektiv ausgeformt werden. Der Zugang wurde wie in Fall 1 versiegelt (siehe Abb. 10, 11). Ohne vorbiegbare NiTi-Feilen wäre eine endodontische Behandlung des betroffenen Zahnes schier undenkbar gewesen.

Finishing Files Größe 60

Im dritten Fall wurde eine 37-jährige Patientin mit Pulpanekrose im oberen rechten Schneidezahn und einer deutlich sichtbaren vestibulären Schwellung vorstellig (Abb. 12). Die Eröffnung der Pulpakammer erfolgte mit einem FG-Bohrer Größe 2 mit chirurgischer Länge. Nach Erreichen der Arbeitslänge wurde der Kanal mit Handinstrumenten bis Größe 15 präpariert. Zudem wurde mithilfe des HyFlex EDM Orifice Opener 12/25 koronal erweitert (Abb. 13). Die Längenmessung ergab genügend Raum für ein Handinstrument Größe 50. Da der Kanal koronal bereits recht groß war, wurden nun mit einer HyFlex EDM Finishing File 02/60 die unteren Kanalabschnitte aufbereitet und apikal erweitert. Selbst die größere 60er-Feile bewies im vorliegenden Fall ihre erstaunliche Bruchfestigkeit (Abb. 14). Der Kanal wurde mit Natriumhypochlorit gespült und anschließend getrocknet, bevor Kalziumhydroxid appliziert wurde und der Kanal mit einer temporären Restauration versiegelt wurde. Es folgte die Inzision und Trockenlegung der vestibulären Schwellung. Beim Recall-Termin nach drei Wochen war die Schwellung vollständig abgeklungen. Das Wurzelkanalsystem wurde gespült, obturiert und analog zu den oben beschriebenen Fällen versiegelt. Die weitere Nachkontrolle erfolgte durch den behandelnden Hauszahnarzt (Abb. 15). Dank des Einsatzes der HyFlex EDM-Serie konnte der komplette endodontische Eingriff mit nur zwei rotierenden Instrumenten durchgeführt werden. Das effektive System erlaubte es ferner, koronal konservativ zu eröffnen und dabei trotzdem gleichzeitig apikal zu erweitern. Mit dem richtigen Equipment können Einsteiger wie Endo-Experten somit innerhalb kürzester Zeit überzeugende Ergebnisse schaffen, ohne Zugeständnisse an die natürliche Kanalanatomie machen zu müssen.

Fazit

Modular konzipierte NiTi-Feilensysteme demonstrieren ihre volle Flexibilität in stark gekrümmten oder schwer zugänglichen Wurzelkanälen. Selbst in kniffligen Situationen ermöglichen flexible, vorbiegbare Feilen wie die HyFlex EDM oder HyFlex CM schnelles und sicheres Arbeiten. Je nach Indikation wählt der Endo-Spezialist zwischen einer schnellen Aufbereitung mit wenigen Feilen oder der hochpräzisen Kanalausformung mit der cleveren Kombination mehrerer Spezialfeilen. Dank ihrem intuitiven Handling können selbst Endo-Einsteiger mit der neuen Generation von NiTi-Feilen rasch verlässliche Ergebnisse kreieren – sogar “in distalen Entfernungen” mit dem Bedarf an ungewöhnlicher Reichweite. DB

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