Klinische Relevanz und Praktikabilität des ABS
Das ZahnAbnutzungsBewertungsSystem ist ein Instrument zur Dokumentation der Quantität vorhandener, nicht durch kariöse Einflüsse entstandener Zahnhartsubstanzschäden und reiht sich somit als nützliche klinische und einfach durchzuführende Befunderfassung in die Gruppe der bereits landläufig bekannten und auch generell gebräuchlichen Indices wie API (Approximalplaque-Index, PSI (Periodontal-Screening Index), BOP (Bleeding-on-Probing) und SBI (Sulcusblutungs-Index) ein. Konzipiert und für die tägliche Anwendung in der zahnärztlichen Praxis optimiert, wurde das ABS von den niederländischen Zahnärzten und Hochschullehrern Wetselaar und Lobbezoo in den Jahren 2001 bis 2009. Für den deutschsprachigen allgemeinzahnärztlichen Leserkreis ist dieser Index erstmalig im Jahre 2017 in der zur interaktiven CME-Selbstschulung gedachten Monographie ‚Diagnostik der Zahnabnutzung‘ des Fortbildungsmedienhauses AkkreDidakt/Prelum vorgestellt worden.
Das für die alltägliche Praxis so Hilfreiche an dem ABS ist, dass nicht nur eine einzige Art der möglichen Zahnhartsubstanzabnutzungen bewertet wird. So wird im Gegensatz zur – ansich sehr sinnvollen – BEWE-Klassifikation (Basic Erosive Wear Examination) im grundlegenden Ansatz des ABS keine stringente Fokusierung auf zunächst nur eine spezielle Schadensursache und -ausprägung vorgenommen. Denn der oftmals schleichende Zahnhartsubstanzverschleiß durch Attrition, Abrasion und Erosion zeigt sich nicht immer als eindeutig monokausale Auswirkung. Nicht selten ergeben sich in letztendlicher Konsequenz multifaktoriell bewirkte Zahnschmelz- und Dentindefekte.
Mit Hilfe von drei speziellen ABS-Quantifizierungs-Modulen können alle erkennbaren Zahnabnutzungen unkompliziert und schnell einzelzahnmäßig wie auch zahnflächenbezogen erfasst werden. Für die praktisch-klinische Anwendung des ABS hat sich nach den eigenen Erfahrungen des Autors besonders das okklusale und inzisale Abnutzung-Screening-Modul bewährt, das im Folgenden näher vorgestellt werden soll.
Das okklusale und inzisale Abnutzung-Screening-Modul
Fünf-Punkte-Skala
0 keine (sichtbare) Abnutzung
1 sichtbare Abnutzung im Zahnschmelz
2 freiliegendes Dentin – Verkürzung der klinischen Krone <
3 Verkürzung der klinischen Krone > , aber <
4 Verkürzung der klinischen Krone >
Dieses ABS-Modul ermöglicht eine lokalisierte Quantifizierung der im Mund eines Menschen vorliegenden Zahnabnutzungen. Mit Hilfe eines Mappings kann der entstandene Zahnhartsubstanzverschleiß zahnflächenbezogen festgehalten werden. Damit ist es möglich, nicht nur retrospektiv, sondern auch im Rahmen einer prophylaktisch orientierten überwachenden Betreuung einzuschätzen, ob, wie und zu welchem Zeitpunkt eine Ursachenvermeidung der Zahnabnutzungen einzuleiten ist. Darüber hinaus lassen sich Aussagen treffen, wann und mit welchen restaurativen Maßnahmen eine konservierende Wiederherstellung verloren gegangener Zahnhartgewebe vorzunehmen ist.
Das qualitative ABS
Alle Module des ZahnAbnutzungsBewertungsSystems (nicht nur das eben beleuchtetet okklusale und inzisale Abnutzung-Screening-Modul) lassen sich für eine den vorliegenden Zahnverschleiß qualifizierende Erfassung nutzen. Mit dem vom Autor erstellten Formblatt, das die Fünf-Punkte-Skala „Quantifizierung Screening-Index“ und die „Quantifizierung detailliert, okklusal/inzisal und nicht-okklusal/nicht-inzisal“ des ABS vereint, können auch die Art des Zahnhartsubstanzverlustes dokumentiert werden (Abb. 1). Eindeutig unterscheidbare Schädigungen durch Attrition, Abrasion und Erosion werden mit verschiedenen Farben in die entsprechenden Zahnflächenfelder eingetragen (Attrition = blau, Erosionen = rot, Abrasionen = schwarz). Bei offensichtlichen „Mischformen“ wird der Grad der Abnutzung in der Farbe der hauptursächlichen Schädigung notiert. Diese kombinierte Dokumentation erlaubt eine optimale Darstellung der Örtlichkeit der Schädigung sowie ihrer Ausprägung als auch deren Ursache.
Fallbeispiele
Attrition
Nach Wetselaar und Lobbezoo definiert sich Attrition als „mechanische Zahnabnutzung in Folge der Funktion und Parafunktion“ und wird durch direkten „Zahn-zu-Zahn-Kontakt“ verursacht. Dabei handelt es sich um eine sehr weit gefasste Beschreibung aller durch dynamische und statische Okklusionskräfte entstehenden Zahnhartgewebsverluste. Daher sei an dieser Stelle daran erinnert, dass stressbedingtes Pressen und Knirschen mit den Zähnen mittlerweile nicht selten schon bei Patienten jüngeren bis mittleren Lebensalters fatal destruktive Auswirkungen auf die vertikale maxillomandibuläre Dimension der habituellen statischen (Schlussbiss-)Okklusion verursacht. Zusätzlich zu solchen pathologischen Zahnabnutzungen kommen die Verschleißerscheinungen an Zähnen, die sich aufgrund des physiologischen Zahnhartsubstanzabtrages durch Kauen und die natürliche dynamische Okklusion beziehungsweise Artikulation einstellen. Bei einer stetig steigenden Anzahl von immer älteren Patienten ist diese natürliche Ursache nicht außer Acht zu lassen.
Die Abbildungen 2 und 3 zeigen zwei Beispiele massiver Attrition – teils generell (Abb. 2), teils partiell (Abb. 3) – an natürlichen Zahnkronen. Das klassische, klinische Bild der mechanischen Abnutzung ist in beiden Fällen klar zu erkennen: Ineinander greifende Abnutzung antagonistisch okkludierender Zahnflächen, Zahnschmelz und Dentin nutzen sich im gleichen Maß ab, glänzende Facetten, Frakturbereiche von Zahnschmelz. Über die genaue ursächliche Ätiologie des Attritionsgeschehens gibt der Abnutzungsgrad an sich keine differenzierte Auskunft. Hier ist das klinische enorale Gesamtbild erforderlich.
Abrasion
Per definitionem genannter Hochschullehrer stellt die Abrasion eine „mechanische Zahnabnutzung dar, die nicht auf die Funktion oder Parafunktion zurückzuführen ist“, also nicht auf Bruxismus oder ähnlichen Geschehen beruht. Häufigste Ursachen sind die übermäßige Verwendung von (zu) harten Zahnbürsten oder ungeeigneter anderer Hilfsmittel. Aber auch unsachgemäße Pflegetechniken wie zum Beispiel „horizontal sägendes“ Zähneputzen tragen nicht unerheblich zur Ausbildung von Abrasionen bei. Nicht selten sind auch schädliche orale Gewohnheiten sowie enorale Piercings verantwortlich für die Ausprägung solcher Schädigungen.
Wie auf den Abbildungen 4 und 5 zu sehen ist, treten Abrasionen häufig an Prädilektionstellen beziehungsweise –bereichen auf. Putzdefekte meist links, da Rechtshänder dazu tendieren, auf der kontralateralen Körperseite länger und mit mehr Kraft zu putzen als auf ihrer linken Seite. Auch bei Abrasionen ist die Ätiologie gelegentlich komplex. Der keilförmige Zahnhartsubstanzverschleiß in Abbildung 4 beispielsweise legt die Vermutung nahe, dass auch okklusale Spannungskräfte mitverantwortlich für das Auftreten dieses Schadens sind. Abbildung 5 belegt weiter, dass abrasiver Verschleiß normalerweise in den Zahnhalsbereichen lokalisiert ist, sich in der Zahnhartsubstanz eher breit als tief erstreckt und vor allem an Eckzähnen und Prämolaren zu finden ist.
Erosion
Nach gleicher Quelle definiert, ist eine Erosion eine „chemische Zahnabnutzung aufgrund intrinsischer (Magensäure) oder extrinsischer Stoffe (saure Nahrungsmittel)“. Klinisch imponieren erosive Defekte durch okklusale Kelch-, inzisale Furchen- und/oder Kraterbildung. Auch Abnutzungen nicht okkludierender Zahnflächen mit „angehobenen“ Restaurationen fallen auf. Eine erhöhte Transluzenz des Zahnschmelzes, aber auch nur glatte, seidig schimmernde beziehungsweise seidig glänzende bis zuweilen sogar matte Zahnoberflächen können auftreten. Besonders augenfällig ist bei ausgeprägten Erosionsschäden das Persistieren eines „Zahnschmelzkragens“ im Sulkus gingivalis eines Zahnes. Gerade letztgenanntes Phänomen lässt sich in Abbildung 6 an den dargestellten Frontzähnen klar erkennen. Die erhöhte erosionsbedingte Transluzenz des Zahnschmelzes zeigt sich in der frontalen Übersichtsaufnahme aller Zähne einer jungen Patientin, die sich diese Zahnhartsubstanzveränderung durch einen zu häufigen und zu intensiven Missbrauch von Bleaching-Agenzien zugefügt hatte (Abb. 7). Die laut Definition vorkommenden okklusalen Kelche in Zahnhöckern sowie die sich durch die Erosionseffekte über die natürliche Zahnharzsubstanz hinaus erstreckenden Füllungen zeigen sich in der Detailaufnahme eines rechten unteren ersten Molaren und zweiten Prämolaren (Abb. 8).
Mischformen
Dass Zahnabnutzungen durchaus häufig in sich überlagernden Ausprägungen vorkommen, ist eine klinische Tatsache, die Diagnostik und Therapie zuweilen erschweren. So spiegeln die Abbildungen 9 und 10 wider, dass sich abrasive und erosive Verschleißeffekte teils stark destruktiv ergänzen. Das besonders für erosiv geschädigte Zahnbereiche Typische ist das nahezu perfekt saubere Erscheinungsbild der beeinträchtigen Areale.
Das ABS als Indikator für Prävention und Therapie
Der große Nutzen des ZahnAbnutzungsBewertungsSystem zeigt sich vor allem bei der „investigativen“ Diagnostik. Häufig sind sich Patienten über ihre Zahnschäden durch Attrition, Abrasion und/oder Erosion gar nicht bewusst und haben sich damit auch noch keine Gedanke über das Ausmaß, geschweige denn die Ursache(n) gemacht. Vergleichbar mit einer Tatortanalyse stellt die Untersuchung des Mundraumes auf nichtkariös bedingte Zahnharzsubstanzschäden gelegentlich eine detektivische Spurensuche dar. Insbesondere mit Blick auf eine präventive Betreuung von Patienten und um Zahnverschleißerscheinungen generell zu vermeiden, ist eine graduierte Dokumentation solcher Schäden hilfreich.
Wetselaar und Lobbezoo empfehlen in ihrer zur CME-Selbstschulung gedachten Monographie „Diagnostik der Zahnabnutzung“ eine intervallweise Wiederholung der Befundungs- und Dokumentationssitzungen. Diese Intervalle sollten nach Ansicht des Autors zum einen vom erkannten Schweregrad der Zahnabnutzungen eines Patienten, zum anderen vom „Gefährdungsgrad“ des betreffenden beziehungsweise betroffenen Menschen abhängig gemacht werden – und stets mit exaktem Bezug und unter genauer Berücksichtigung der Ursache der Zahnhartsubstanzabnutzung.
So lassen sich in schon mehrfach dokumentiert „unproblematischen“ Fällen Zeitabstände von ein bis sogar zwei Jahre denken. Bei Jugendlichen aber, die durch den Konsum von Energy- beziehungsweise Soft-Drinks anamnestisch und/oder klinisch nachweislich für Erosionsschäden prädestiniert sind gefährdet sind, sollte eine quantifizierte/qualitative Dokumentation gegebenenfalls vorliegender Zahnhartsubstanzverluste mit den üblicherweise halbjährlich stattfinden Routinekontrollen erfolgen. Gleiches gilt für zu befürchtende oder schon im Ansatz ersichtliche durch Abrasion bewirkte Putzdefekte aufgrund unsachgemäßer Mundhygiene-Techniken sowie ungeeigneter Pflegehilfsmittel. Aber auch gewohnheitsmäßig betriebene „Malhabits“, wie etwa Fingernägelbeißen, Bleistiftkauen oder auch Pfeifen- und E-Zigaretten-Rauchen mittels interokklusal gehaltener Mundstücke geben Anlass dazu, das etwaige Eintreten beziehungsweise das Vorhandensein sowie letztendlich das Fortschreiten von manifesten Zahnhartsubstanzabnutzungen mit Hilfe des ABS zu überwachen. Nicht zuletzt sollte auch das „Timing“ des Zähneputzens in ein präventives, den Patienten betreuendes Zahnabnutzungsmonitoring mit einbezogen werden. Denn vor oder nach dem Essen Zähne zu putzen, kann in bedeutendem Maße von der Art der zu sich genommenen Speisen und Getränken abhängig gemacht werden.
Ein weiterer Vorteil des ABS ist es, dass mit seiner Hilfe der Zeitpunkt für eine therapeutische Intervention des nichtkariös verursachten Zahnverschleißes stimmig festgelegt werden kann. Auch wenn das ABS keine Aussagen über die intrinsischen und/oder extrinsischen Ursachen der Zahnabnutzung gibt, so ermöglicht es mit Blick auf die differenzierende Erkennung und die Bewertung des Ausmaßes des Zahnhartsubstanzverlustes dennoch eine genaue nachvollziehbare Auskunft, wann an welchen Zähnen mit restaurativen Maßnahmen begonnen werden muss, denn progrediente oder pathologische Zahnhartsubstanzverluste können durch Anwendung des ABS nicht übersehen werden.
Fazit
Das ZahnAbnutzungsBewertungsSystem (ABS) ist ein praktischer und klinisch einfach anzuwendender Index für die Diagnose, Dokumentation und Behandlungsplanung von Patienten mit erosions-, attritions- und/oder abrasionsbedingten Zahnhartsubstanzverlusten. Insbesondere die Möglichkeit, auch anfängliche, noch unscheinbare multifaktoriell verursachte Zahnhartsubstanzdefekte gemäß ihrer Lokalisation und Quantität genauestens zu erfassen, machen das ABS zu einem ausgesprochen nützlichen Instrument, die wirksame Vorsorge oder zielgerichtete Maßnahmen zur Vermeidung des Fortschreitens von Verschleißerscheinungen an natürlichen Zahnkronen zweifelsfrei zu überwachen.